Zwei aktuelle Berichte legen einen erschreckend laxen Umgang vieler Universitäten mit der Veröffentlichung klinischer Studienergebnisse in Studienregistern offen. Auch deutsche Universitätskliniken sind da keine Ausnahme. Für die evidenzbasierte Gesundheitsversorgung und speziell für die Arbeit von Cochrane ist dies ein existenzielles Problem.
Ein Cochrane Review soll die umfassende Synthese der gesamten aktuellen wissenschaftlichen Evidenz zu einer konkreten Fragestellung aus Medizin oder Gesundheitswesen sein. Um diesem Anspruch gerecht werden zu können, benötigen die Autorinnen und Autoren eines Reviews allerdings auch Zugang zu allen relevanten Studienergebnissen. Seit seiner Gründung vor mehr als 25 Jahren kämpft Cochrane deshalb dafür, dass die Ergebnisse klinischer Studien zeitnah und lückenlos öffentlich zugänglich gemacht werden, sei es in Form von Artikeln in Fachzeitschriften, oder als Zusammenfassung in online zugänglichen Studienregistern.
Wie weit wir noch immer davon entfernt sind, zeigt eine aktuelle Arbeit in The Lancet. Die Autoren überprüften dafür mehr als 4200 klinische Studien, die zwischen März 2018 und September 2019 in dem amerikanischen Studienregister ClinicalTrials.gov erfasst wurden. Nach amerikanischem Recht müssen dort eigentlich innerhalb eines Jahres nach Abschluss der Studie auch Ergebnisse hinterlegt werden. Doch in Wirklichkeit war dies gerade mal für etwas mehr als 40 Prozent der Studien der Fall.
Deutsche Unikliniken machen nur einen Bruchteil ihrer Studienergebnisse zeitnah zugänglich
In Deutschland sieht es mit dem zeitnahen und vollständigen Zugang zu klinischen Studienergebnissen keineswegs besser aus. Das zeigt ein eben erschienener gemeinsamer Bericht von TranspariMED und der Buko Pharma-Kampagne. Die beiden Organisationen, die sich für Transparenz in der medizinischen Forschung einsetzen, gehen darin der Frage nach, in wie weit die mehr als 30 deutschen Universitätskliniken der EU-weiten Regelung nachkommen, binnen Jahresfrist nach dem Abschluss einer Studie eine Zusammenfassung der Ergebnisse im europäischen Register EudraCT hochzuladen. Dafür identifizierten die Autoren 477 klinische Studien, die seit mehr als 12 Monaten (und teilweise wesentlich länger) abgeschlossen sein müssten, darunter Arbeiten zu Therapieansätzen für gesellschaftlich bedeutende Krankheiten wie Multiple Sklerose, Krebs und Diabetes. Das ernüchternde Resultat der Zählung: Studienergebnisse lagen gerade mal für 32 dieser Studien vor – das entspricht weniger als sieben Prozent.
Wirklich überraschend sind die neuen Zahlen nicht. So ergab schon eine Mitte 2019 veöffentlichte Untersuchung, an der auch Mitarbeiter von Cochrane Deutschland beteiligt waren, einen nur geringen Anteil zeitnah öffentlich gemachter Studienergebnisse deutscher Unikliniken.
Warum sind unveröffentlichte Studienergebnisse so ein großes Problem?
Wenn die Ergebnisse einer klinischen Studie ganz oder teilweise unveröffentlicht in der Schublade (beziehungsweise auf einer Festplatte) enden, ist dies nicht nur eine Verschwendung von Forschungsgeldern, sondern auch ein Vertrauensbruch gegenüber den Studienteilnehmern, die ihre Zustimmung in dem Glauben gaben, dem wissenschaftlichen Erkenntnisgewinn zu dienen und dafür vielleicht sogar mögliche Nebenwirkungen in Kauf nahmen.
Zurückgehaltende Ergebnisse sind aber auch eine Gefahr für die gesamte evidenzbasierte Gesundheitsversorgung und können so ganz konkret Menschen schaden. Dann nämlich, wenn die unveröffentlichten Ergebnisse die bisher bekannte Evidenz zu Wirksamkeit und Nebenwirkungen einer Therapie maßgeblich verändern würden. Ob dem so ist oder nicht, lässt sich von außen schlicht nicht beurteilen, wenn man auf die entsprechenden Daten nicht zugreifen kann, beziehungsweise, wenn man nicht einmal von deren Existenz weiß.
Verzerrte Evidenz
„Disseminationsbias“ (auch „Publikationsbias“) nennen Methodiker diese Verzerrung der zugänglichen wissenschaftlichen Evidenz durch eine selektive Verbreitung von Ergebnissen. Ein klassischer Fall ist die bevorzugte Publikation „positiver“, statistisch signifikanter Ergebnisse. Studien, bei denen vermeintlich nichts herauskommt, enden dagegen oft im Müll – Forscher verlieren an solchen negativen Ergebnissen schnell das Interesse, zumal sie sich kaum in wissenschaftlichen Fachjournalen publizieren lassen. Dabei sind negative Ergebnisse für die Wissenschaft prinzipiell ebenso wertvoll wie positive, beispielsweise, wenn sich ein Therapieeffekt wider Erwarten nicht einstellt.
Kritisch wird es, wenn Forscher gezielt nur solche Teilergebnisse publizieren, die ihre Hypothesen unterstützen und andere unter den Teppich kehren, erst recht, wenn dabei wirtschaftliche Interessen von Studiensponsoren eine Rolle spielen.
Doch es gibt ein Mittel gegen den Disseminationsbias: Transparenz. Eben hierfür sollen nationale und internationale Studienregister wie ClinicalTrials.gov oder eben EudraCT sorgen, deren Nutzung inzwischen in vielen Ländern verpflichtend ist. Die Idee dahinter: Noch vor ihrem Start wird jede klinische Studie im Register eingetragen, mitsamt Details zu Design und Zielen. Nach dem Abschluss der Studie müssen dann auch die Ergebnisse, etwa in Form einer Zusammenfassung, in das Studienregister hochgeladen werden. Das macht Studien nachverfolgbar und erschwert nachträgliche Änderungen am Studienplan. Unliebsame Ergebnisse können nicht mehr sang- und klanglos in der Schublade enden, ihre Resultate gehen in den großen Pool der bekannten Evidenz ein.
Für die Forscher bedeutet dies zweifelsohne zusätzliche Arbeit, für die es insbesondere im universitären Bereich oft an Zeit und Ressourcen mangelt. Hier dürfte also eher Überlastung und nicht Vorsatz für die mangelhafte Einhaltung der Vorschriften verantwortlich sein. Eine mögliche Abhilfe könnte hier sein, spezielle Mitarbeiter zur Koordination der Studienregistrierung einzustellen. Tatsächlich schneiden größere Arzneimittelhersteller und Forschungszentren mit ihren besseren Ressourcen im Lancet-Bericht merklich besser ab als kleinere Unikliniken.
Dass sich die Veröffentlichungsdisziplin durch öffentlichen Druck in kurzer Zeit erheblich verbessern lässt, zeigt das Beispiel Großbritannien. Großen Anteil daran hatte die 2013 gestartete Kampagne „All Trials“, die in der Öffentlichkeit, in Anhörungen des Parlaments und bei Forschungsförderern auf den Missstand aufmerksam machte. Der politische Druck auf Forschungsinstitutionen und Industrie ließ den Anteil von Studien, für welche Ergebnisse in Registern vorliegen, dramatisch in die Höhe schnellen - er liegt nach Angaben von Transparimed für britische Universitäten inzwischen bei über 70 Prozent. Mit ihrem aktuellen Bericht wollen TranspariMED und die BUKO Pharmainitiative das Problembewusstsein nun auch in Deutschland erhöhen, ein Ziel, dem sich auch Cochrane Deutschland verschreibt.
„Für die Arbeit von Cochrane ist der lückenlose Zugang zur vollständigen Evidenz essentiell“, sagt Jörg Meerpohl, Direktor von Cochrane Deutschland. „Unsere systematischen Übersichtsarbeiten sollen die gesamte Evidenz zu einer konkreten Forschungsfrage abbilden, nicht nur einen verzerrten Ausschnitt. Nur so werden sie ihrem Anspruch gerecht, die bestmögliche Evidenz-Grundlage für Entscheidungen für oder gegen Therapieoptionen zu liefern. Universitätskliniken sollten hier eigentlich mit gutem Beispiel vorangehen. Dass sie stattdessen offenbar nicht einmal zehn Prozent ihrer Studienergebnisse innerhalb des festgelegten Zeitraums öffentlich zugänglich machen, ist völlig inakzeptabel.“
Text: Georg Rüschemeyer