Cochrane in den Medien: Erläuterung der Widersprüche und Konflikte in den Leitungsgremien von Cochrane International
English version (machine translation with DeepL/ edited)
Text: Gerd Antes
Die Cochrane Collaboration (www.cochrane.org), heute nur noch als Cochrane bezeichnet, bekommt seit dem 16. September 2018 in der Fachwelt und auch in den allgemeinen Medien unter dem Motto “Cochrane in der Krise?“ weltweit eine enorme Aufmerksamkeit. Fakten sind auffallend dürftig und extrem widersprüchlich. Im Mittelpunkt stehen die publizierte Kritik eines kürzlich erschienenen Cochrane Reviews zur HPV-Impfung gegen Cervix-Karzinom; Diskussion, Abstimmung und Ausschluss des Leiters des Nordic Cochrane Centre aus dem Governing Board und aus Cochrane als Ursache für den Rücktritt von vier Mitgliedern des Governing Boards; und die hieraus folgenden Interpretationen und Bewertungen. Diese zeigen eine erstaunliche Heterogenität, die vor allem auf die unvollständige Information durch das Board zurückzuführen ist. Die Interpretation der Ereignisse erfolgt jeweils aus der Perspektive der eigenen Weltanschauung, sowohl auf der wohlwollenden wie auch auf der kritischen Seite, und macht das Verständnis von außen damit noch schwieriger. Die gegenwärtigen Ereignisse sind unerfreulich, jedoch unvermeidliche evolutionäre Schritte im Wachsen einer so heterogenen Organisation wie Cochrane. Daraus werden Impulse entstehen, die fruchtbar für die weitere Entwicklung sind. International dürften die gegenwärtigen Irritationen keine langfristigen negativen Auswirkungen haben. National wird die Arbeit in keiner Weise beeinflusst. Ein starkes Cochrane Deutschland ist gefordert, aktiv Einfluss auf die internationale Weiterentwicklung zu nehmen und an die Besinnung und Fokussierung auf die Werte und Ziele von Cochrane zu erinnern.
Seit dem Cochrane Colloquium 2018 (16. – 18. Sept.) wird Cochrane International in verwirrend unterschiedlicher Darstellung in wissenschaftlichen Zeitschriften wie auch in Publikumsmedien thematisiert. Inhaltliche Kritik und divergierende Einschätzungen einer systematischen Übersichtsarbeit zur HPV-Impfung, persönliche Auseinandersetzungen unter Mitgliedern von Cochrane und das alles unter den Rahmenbedingungen des Stiftungsrechts Großbritanniens sind selbst in längerer Ausführung für Außenstehende kaum vermittelbar. Erschwerend kommt hinzu, dass viele Einschätzungen stark auf subjektiven Bewertungen beruhen und diese gerade auch bei den Meinungsführern durch die Geschichte der Cochrane Collaboration über 25 Jahre geprägt wurden.
Um den von allen Seiten an uns herangetragenen Fragen “Was ist denn bei Euch los?“ gerecht zu werden, folgt hier eine persönliche Stellungnahme von mir (Gerd Antes). Sie beschränkt sich auf die Darstellung und Einschätzung der strukturellen Bedingungen und der wesentlichen Faktoren, ohne auf Details einzugehen. Meine Einschätzung beruht auf der fast 25-jährigen Erfahrung als Mitglied der Organisation (u. a. Mitglied in der Steering Group und als Direktor des Deutschen Cochrane Zentrums, formale Registrierung Ende 1997).
Cochrane (ursprünglicher Name: The Cochrane Collaboration) ist ein 1993 gegründetes, weltumspannendes Netzwerk, dessen intellektuelle Grundlage bereits 1972 durch Archie Cochranes Buch gelegt wurde. Ein Blick auf diesen Zeitraum bietet ein faszinierendes Lehrstück für die Entwicklung von der grundlegenden und überfälligen Idee (Aussagen zur Wirksamkeit aus kontrollierten Studien) hin zu einer reifen Organisation. Nach zwei Jahrzehnten methodischer Entwicklungsarbeit sahen die nächsten 25 Jahre dann die Entwicklung von einer Grass-Root-Bewegung hin zur professionalisierten Cochrane Organisation mit der Agenda 2020. Prägnant formuliert bedeutet das den tiefliegenden Wandel von einer schnell wachsenden Gruppe von wissenschaftlichen Individualisten zu einer zunehmend zentralistischen und teils auch autoritär erscheinenden Organisation.
Cochranes Entwicklung ist eine faszinierende Erfolgsgeschichte, hat sich doch die einfache Idee, medizinisches Wissen durch die Synthese der Ergebnisse aus kontrollierten Studien zu generieren und anzuwenden, über den Großteil der Welt mit unterschiedlichen politischen Systemen (in über 130 Ländern), fundamental verschieden ausgeprägten Gesundheitssystemen und einer kaum zu übertreffenden Vielfalt an Sozialsystemen, Kulturen und Religionen ausgebreitet. Die Relevanz dieser Arbeit wurde u. a. 2011 durch einen Sitz in der World Health Assembly anerkannt. Diese Erfolge sind sicht- und messbar durch sehr hohe Anzahlen von Zitierungen, z. B. in evidenzbasierten klinischen Leitlinien, so dass Cochrane damit eine zentrale Grundlage für die externe Evidenz in einer evidenzbasierten Gesundheitsversorgung liefert.
Eine weitere Dimension dieser Erfolgsgeschichte ist weitgehend unsichtbar, so lange sie funktioniert. Die Strukturierung und das Funktionieren der Leitungs- und Steuergremien (im Englischen: Governance) einer dermaßen heterogenen Organisation ist tatsächlich eine der großen Leistungen von Cochrane, da diese Strukturen während des 25-jährigen Wachstums unter Spannungen verschiedenster Art weiterentwickelt wurde. In den Fokus rückt der bisherige Erfolg durch die jetzigen Ereignisse, die in dieser Form erstmalig aufgetreten sind, die Öffentlichkeit erreicht haben und vor allem auch als Bedrohung von Cochrane wahrgenommen werden.
Die Situation hat einen sehr komplexen Hintergrund, dessen Eckdaten vereinfacht sind: Cochrane hat als Leitungsgruppe ein sogenanntes Governing Board, das unter Leitung der beiden Co-Chairs strategische Entscheidungen fällt. Dazu gibt es einen CEO für das operative Geschäft und einen Chief Editor für die Inhalte der Cochrane Library, die die Geschäftstelle mit angestellten Fachkräften in London leiten. Die Tagesordnung des Governing Board für die Sitzung vor dem Cochrane Colloquium enthielt u. a. die Diskussion des Verhaltens von Peter Gøtzsche (Leiter des Nordic Cochrane Centre, Kopenhagen) und der daraus resultierenden möglichen Schädigung des Rufs der Cochrane Organisation. Der oberflächliche Anlass war die massive Kritik an einem kürzlich fertiggestellten Cochrane Review zur HPV–Impfung zur Prävention des Cervix-Karzinoms im British Medical Journal (Lars Jørgensen, Peter Gøtzsche, Tom Jefferson), wobei die beiden ersten Autoren dem Nordic Cochrane Centre angehören. Offensichtlich war das jedoch nur ein kleiner Teil der Vorwürfe, so dass die Diskussion im Governing Board damit endete, dass eine Abstimmung angesetzt wurde zur Frage, ob Gøtzsche aus der Cochrane Organisation ausgeschlossen werden solle.
Um die Tragweite dieser Abstimmung zu erfassen, sind ein paar Fakten zu Gøtzsche zu benennen: Gøtzsche gehörte mit dem Nordic Cochrane Centre zu der ersten Gruppe von Zentren im Gründungsjahr 1993. Bezogen auf die Einwohnerzahl von Dänemark ist das Zentrum das mit Abstand am besten und nachhaltigsten ausgestattete Zentrum. Gøtzsche hat in einer Fülle von Artikeln und Büchern Analysen zu vielen brisanten Themen der heutigen Gesundheitsforschung und -versorgung publiziert und dazu Stellung bezogen. Die dabei gezeigte Vorgehensweise war fast immer von Direktheit und Kompromisslosigkeit im Verhalten und in Formulierungen geprägt, die polarisierend waren und starke Auswirkungen auf die Wahrnehmung Cochranes hatten und haben. Damit verkörpert Gøtzsche einerseits Prinzipientreue, Unbeugsamkeit und Integrität von Cochrane, auf der anderen Seite jedoch einen Mangel an diplomatischer, verbindlicher Kommunikation und angemessenem kollegialen Umgang vor allem auch innerhalb von Cochrane. Die Form der Kritik wurde über viele Jahre vor allem von Cochrane-Autoren und den Herausgebern der Review-Gruppen beklagt. Diese durch Gøtzsche sichtbar gemachten zwei Seiten finden sich in nicht quantifizierbarer Form in Cochrane und sind ein entscheidender Grund für die gegenwärtige Situation.
Vor diesem Hintergrund stellt sich die Frage, wie Cochrane als Organisation mit solchen Mitgliedern umgeht. Das Vorgehen des Boards erscheint angesichts der über 25-jährigen Vorgeschichte, in der Cochrane sich mit Gøtzsche arrangiert hat, unangemessen. Die Entwicklung vor dieser Diskussion und Abstimmung war intransparent und es mangelte an essentieller Information. Dies wird damit begründet, dass in dem laufenden Vorgang das Stiftungsrecht Großbritanniens mit der Charity Commission als Aufsichtsbehörde und anwaltlicher Beratung über allem steht und dadurch Vertraulichkeit eingehalten werden musste. Damit werden vom Board in schädlicher Weise die Vorwürfe bestätigt, dass Cochrane sich von seinen Zielen entfernt und Grundprinzipien wie Transparenz und Integrität auf Leitungsebene aushöhlt.
Der Rücktritt der vier Mitglieder erscheint vor diesem Hintergrund aus meiner persönlichen Sicht heraus nicht nur als gut begründete Kann-Entscheidung, sondern als klares Bekenntnis zu Grundprinzipien von Cochrane und daher geradezu zwingend. Es war vorauszusagen, dass Cochrane durch diese Diskussion, Abstimmung und knappe Mehrheitsentscheidung innerhalb von Cochrane und in der Außenwahrnehmung beschädigt wird. Hinzu kommt, dass nach den Regeln für die Arbeit des Boards die Entscheidung gegen Gøtzsche in der Öffentlichkeit von Boardmitgliedern vertreten werden müsste, was auf der Basis der oben dargestellten Gesamtkonstellation nur schwer möglich erscheint.
Aus deutscher Sicht (ähnlich für Österreich) sind zwei entscheidende Fragen zu beantworten: Werden die gegenwärtigen Konflikte langfristig Konsequenzen haben und werden sie kurz- und mittelfristig Einfluss auf die nationale und lokale Arbeit haben. Ersteres wird sich daran entscheiden, wie die gegenwärtige Situation aufgelöst wird. Die Frage “Cochrane in der Krise?“ muss mit der Feststellung, dass Cochrane eine Governance - Krise hat, beantwortet werden. Die ist bei dem rapiden Wachstum von der Gründung zu einer unverzichtbaren, weltumspannenden Plattform für verlässliche medizinische Informationen innerhalb von 25 Jahren nicht präzise vorhersagbar, aber auch nicht wirklich überraschend. Das Ziel muss jetzt sein, die Ereignisse als evolutionären Schritt anzusehen, durch den Cochrane mit größtmöglicher Transparenz für die Öffentlichkeit weiter entwickelt wird. So wird die gegenwärtige Aufregung im Rückblick als vielleicht schmerzhafter, auf jeden Fall aber notwendiger Impuls für die fruchtbare Weiterentwicklung betrachtet werden können. Entscheidende Richtschnur für die Bewertung muss die strikte Orientierung an den Zielen und Grundprinzipien von Cochrane sein. Wissenschaftliche Rigorosität, Erkenntnisse mit minimalen Bias bzw. maximalem Vertrauen und die konsequente Abwehr von interessengesteuertem Einfluss auf die Aussagen müssen weiterhin über allem stehen.
Kurz- und mittelfristig sind für die Arbeit in Deutschland keine unmittelbaren Auswirkungen zu erwarten. Im Gegenteil, die Aktivitäten von Cochrane Deutschland treten durch die erfolgreichen Bemühungen des BMG um eine nachhaltige Förderung der Cochrane Deutschland Stiftung und durch die Gründung des Instituts für Evidenz in der Medizin (für Cochrane Deutschland Stiftung) an der medizinischen Fakultät der Universität Freiburg gerade in ein neues Zeitalter ein. Die neue Leitung durch die in Kürze besetzte W3-Professur wird der letzte Schritt sein, mit dem sich die Arbeitssituation für Cochrane in Deutschland entscheidend verbessert. Damit ist Cochrane Deutschland auch im weltweiten Vergleich in einer komfortablen Situation, die es ermöglichen wird, die Entwicklung von Cochrane International aktiv zu unterstützen und damit auch die gegenwärtige Irritation zu überwinden.